ESG report #7: Wahl-Nachlese | Grüne Versicherer | Schonfristen

Hinter uns liegt eine ziemlich grüne Woche. Vergangenen Freitag zogen mehr als eine halbe Million Menschen – wahlweise Schüler, Lehrer oder auch "Omas for Future" – zum Aktionstag mit Klimaschutz-Transparenten durchs Land. Und am großen Wahlsonntag wuchs der grüne Balken mit 14,8 Prozent im Vergleich zu 2017 (8,9 Prozent) beachtlich. Zwar bleibt wie erwartet die große Kanzleramtsrochade aus, dennoch sind die Grünen vom einstigen Ökotrupp mit Randgruppencharme in den vergangenen Jahren immer weiter zur Volkspartei angeschwollen. Von den jungen Wählern unter 25 Jahren hat ein knappes Viertel sie gewählt. Kurzum: Der gesellschaftspolitische Druck, Nachhaltigkeit und Klimapolitik in den Mittelpunkt zu stellen, steigt in Deutschland zusehends. Das entsprechende Angebot der Finanzbranche wächst derweil vergleichsweise verhalten.

Liebe Leserinnen und Leser,

wir haben diese ereignisreiche Woche zum Anlass genommen, den Zusammenhang zwischen dem Druck auf nationaler Ebene und der ESG-Angebotsvielfalt unter die Lupe zu nehmen.

Viel Spaß mit der Lektüre unseres neuen Briefings wünscht

Ihre ESG-Redaktion

Wir freuen uns auf Ihr Feedback an redaktion@esg-report.de!

These der Woche

In Deutschland herrscht zu wenig Druck

Wenn Gelb für solide Finanzpolitik steht und Grün für einen verstärkten Nachhaltigkeitstrend, dann könnten mit der künftigen deutschen Regierung für die ESG-Finanzbranche rosarote Zeiten anbrechen. Annalena Baerbock und Robert Habeck von den Grünen, Christian Lindner und Volker Wissing von der FDP lächeln zwar noch etwas angestrengt. Aber die Vorverhandlungen haben begonnen.

Was ein Zusammenraufen der ungleichen Partner in Bezug auf nachhaltige Finanzpolitik bedeuten könnte und ob sich die beiden letztlich in einer Ampel- oder Jamaika-Koalition wiederfinden, steht zwar noch in den Sternen. Dass es in Deutschland um eine Aufholjagd geht, steht dagegen jetzt schon fest: "In Europa geht die Schere auseinander", schrieb das "Handelsblatt" am Montag. Eine Umfrage der Zeitung unter 16 Vermögensverwaltern in Europa offenbarte eine immense Kluft beim Anteil des nachhaltig verwalteten Kapitals. Die Fondshäuser in Skandinavien, Benelux und Frankreich liegen weit vorn, die deutschen Asset-Manager weit hinten. Spitzenreiter ist die niederländische Robeco mit einem ESG-Anteil des verwalteten Kapitals von stolzen 89 Prozent. Die Quoten deutscher Fondshäuser kommen laut "Handelsblatt" nur auf 8 bis 21 Prozent.

Selbst wenn die Zahlen auf hauseigenen Angaben beruhen und wegen fehlender Standards mit Vorsicht zu genießen sind, haben viele Experten eine gute Erklärung dafür parat, warum nordeuropäische Häuser wie die Nordea progressiver erscheinen: Der gesellschaftliche Druck sei dort schlichtweg größer. Skandinavien als Heimat von Greta und Flugscham tickt völlig anders als Deutschland, die Heimat von Kohle-Nostalgie und Autobahn. Liegt hier der große Unterschied? Und ist dank der neuerdings herrschenden Aufbruchstimmung damit zu rechnen, dass sich diese Lücke schließt? Wir haben nachgefragt:

Stimmen aus der Praxis

Wie viel bewirkt der (gesellschafts-)politische Druck auf nationaler Ebene?

Jakob Thomä, Managing Director der 2° Investing Initiative und Initiator der Plattform „MeinFairMögen“

Jakob Thomä (c) Fraeulein Fotograf
„Portfolios werden dann grüner, wenn die Wirtschaft grüner wird. Vor dem Hintergrund kann diese Wahl natürlich die Weichen stellen für einen grüneren Finanzmarkt. Insgesamt zeigt sich jedoch auch, dass viele Menschen nicht mehr auf die Politik warten wollen, um ihren Beitrag zum Erreichen der Klimaziele zu leisten. In dem Moment, wo diese Ziele in Anlagegespräche und Investitionsentscheidungen übersetzt werden, kann der Finanzmarkt auch seine eigene komplementäre Dynamik entwickeln. Das funktioniert jedoch nur, wenn der deutsche Finanzplatz konsequent seiner Verantwortung gerecht wird, ehrlich und offen und wirkungsorientiert diese Ziele umsetzt.”

Prof. Dr. Dirk Söhnholz, Gründer, Eigentümer und Geschäftsführer von Soehnholz ESG

Dirk Söhnholz (c) Oliver Roesler oro photography
„Gesellschaftspolitische und regulatorische Entwicklungen haben beide einen großen Einfluss auf das Angebot nachhaltiger Fonds. Dabei ist die Qualität der Angebote viel wichtiger als die Quantität – eine große Zahl grün gewaschener Fonds bringen der Umwelt nichts. Es gibt bisher nur sehr wenige konsequent nachhaltige Geldanlageangebote. Berater und Anleger müssen dringend ertüchtigt werden, Gute von Schlechten unterscheiden zu können. Der europäische Regulierungsdruck wird zu viel mehr ESG-Angeboten führen. Dabei werden aber wohl nur relativ einfach zu erfüllende Mindeststandards gesetzt. Eine grünere Politik in Deutschland kann maßgeblich dazu beitragen, dass die Anforderungen an nachhaltige Produkte strenger werden, als es die europäischen Mindeststandards verlangen.“

Für die Aufholjagd könnte es also mitunter klug sein, sich nicht nur an EU-Richtlinien entlangzuhangeln, sondern den gesellschaftlichen Aufbruch in Deutschland und damit zu erwarteten nachhaltigen Anlageboom noch viel stärker zu antizipieren.

ACHTUNG: Ein solcher Vergleich zwischen Vermögensverwaltern verschiedener Länder ist angesichts der teils schwammigen ESG-Definitionen und unterschiedlichen Maßstäbe nicht mehr als ein Stimmungsbild. Auf mehr Einheitlichkeit müssen wir noch warten. Vermutlich sehr viel länger als auf die neue Koalition.

Personalien

Namen, die Sie sich merken sollten

Kim Heyden: ESG-Spezialistin kommt zu Fidelity

Der Vermögensverwalter Fidelity International Deutschland verstärkt sein Vertriebsteam mit Kim Heyden. Sie soll künftig Privat- und Regionalbanken betreuen und dabei ihre Expertise zu nachhaltiger Geldanlage einbringen. Die studierte Betriebswirtin promovierte zum Thema ESG-Fonds.

Moritz Kraemer wird neuer Chefvolkswirt bei der LBBW

Expertise in Sachen Nachhaltigkeit ist offenbar auch bei Berufungen in die Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) von Vorteil. Der neue Chefvolkswirt Moritz Kraemer, der im November die Nachfolge von Uwe Burkert antritt, war viele Jahre Chefanalyst bei der Ratingagentur S&P Global – und dort an der Einführung von ESG-Kriterien in Ratingprozessen mitbeteiligt.

IR.on holt Michael Werner in sein Nachhaltigeitsteam

Die Beratungsgesellschaft IR.on hat eine neue Beratungseinheit „Nachhaltigkeit & ESG“ gegründet. Die Leitung übernimmt Senior-Beraterin Anna-Lena Mayer, mit von der Partie ist auch Neuzugang Michael Werner, ehemaliger Partner der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PwC. In 15 Jahren bei PwC hat er dort die Nachhaltigkeitsberatung mit aufgebaut. IR.on verpflichtete ihn nun als strategischen Berater.

Auf einen Blick

Was uns diese Woche noch auffiel

Deutsche Bank will ESG – jetzt aber richtig!

Deutsche Bank will ESG – jetzt aber richtig!

Christian Sewing, Vorstandschef der Deutschen Bank, baut das Haus seit 2019 kräftig um. Nun folgt im kommenden Jahr das nächste große Strategie-Update. Sewing verriet jetzt erste Zukunftsthemen: Neben dem Wachstum in Asien gehört dazu das allgegenwärtige Thema Nachhaltigkeit. Der Zeitpunkt, eine neue ESG-Ausrichtung anzukündigen, trifft das Geldhaus in unruhiger Lage. Denn die Deutsche-Bank-Tochter DWS sorgt seit einigen Wochen mit einem Greenwashing-Skandal für Schlagzeilen.

Bafin: Schonfrist für Prüfung von Klimarisiken

Bafin: Schonfrist für Prüfung von Klimarisiken

Papier ist geduldig, die Finanzaufsicht Bafin auch. Zumindest wenn es um Nachhaltigkeit bei deutschen Geldhäusern und Versicherern geht. So hatte die Aufsichtsbehörde ursprünglich festgelegt, dass Finanzinstitute sich an die Vorgaben eines Merkblatts zum Thema Nachhaltigkeitsrisiken halten müssen, das die Bafin im Jahr 2019 aufgesetzt hatte. Ob das funktioniert hat, bleibt in vielen Fällen jedoch erstmal offen. Denn für das Geschäftsjahr 2021 müssen kleine Banken und Versicherer den Wirtschaftsprüfern noch keinerlei Nachweise liefern. Das Institut der Wirtschaftsprüfer (IDW) rechnet erst im kommenden Jahr mit einer verbindlichen Prüfpflicht.

Saudi-Arabien will Green Bonds auflegen

Saudi-Arabien will Green Bonds auflegen

Saudi-Arabien assoziieren wohl die wenigsten mit Nachhaltigkeit. Schließlich werfen viele dem Staat Menschenrechtsverletzungen vor, und Ölexporte sind seine wichtigste Einnahmequelle. Nun muss sich offenbar auch der Wüstenstaat den Veränderungen in der Welt beugen und eine Nachhaltigkeitsstrategie entwickeln: Saudi-Arabien plant tatsächlich die Ausgabe seiner ersten Green Bonds. Die Öko-Anleihen sollen Investoren aus aller Welt anziehen. Selbst wenn das Kapital in grüne Energieprojekte fließt, bleibt allerdings die Frage, wie viel Social und wie viel Governance Anleger in der absolutistisch geführten Monarchie ohne Gewaltenteilung erwarten können.

EIn letzter Schluck

Verbote für den grünen Zweck

Nachhaltigkeit wird Kundinnen und Kunden immer wichtiger. Das hat nun auch die jüngste Umfrage des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) bewiesen: Nahezu jeder zweite Deutsche kann sich danach vorstellen, eine Police bei einem Versicherer abzuschließen, der besonderen Wert auf Klima- und Umweltschutz legt – und Interesse ist über alle Altersstufen hinweg groß. Ein Viertel der Befragten kann sich sogar vorstellen, für eine umweltfreundliche Police mehr zu bezahlen.

Nachhaltig finden Kunden also gut. So weit, so einfach. Komplizierter ist da schon die Frage: Wie radikal dürfen und sollten nachhaltige Policen denn sein? Reicht es schon, wenn eine Versicherung Bäume pflanzt und Kapital nach ESG-Kriterien anlegt? Was wäre, wenn Versicherungen weiter gingen und beispielsweise die Versicherten in die Pflicht nähmen? Etwa durch Ausschlüsse von Autos mit zu hohem Spritverbrauch oder einem Mindestmaß an Energieeffizienz als Voraussetzung für eine Gebäudeversicherung? Henning Bernau, Vorstand der NV-Versicherungsgruppe gab im Procontra-Interview auf genau diese Fragen Antwort: Mit der eigenen grünen Versicherungspolicemarke „bessergrün“ wolle man zumindest niemandem etwas verbieten, sondern bloß Möglichkeiten für ökologisches Engagement schaffen.

Kein Wunder: Beim Thema Verbote zucken nicht nur Wirtschaftsliberale zusammen. Umgekehrt könnte es ja sein, dass harte Zeiten bald harte Maßnahmen erfordern. Und hier wiederum sitzen Versicherer an einem spannenden Hebel, um Verbraucher im Sinne einer nachhaltigeren Lebensweise anzustupsen. Für die Finanzindustrie sicherlich spannende Gedanken, die eventuell noch etwas früh kommen, solang sich mit radikaleren Ansätzen bloß eine kleine Öko-Zielgruppe gewinnen lässt. Wer weiß, wie lange noch: In ein paar Jahren, wenn die heutigen Fridays-For-Future-Demonstrantinnen zur neuen Zielgruppe werden, könnte die Sache schon anders aussehen.

Autorinnen dieser Ausgabe:

Anne Hünninghaus + Mariam Misakian

Anne Hünninghaus + Mariam Misakian

Wir sind Redakteurinnen in der Wirtschafts- und Finanzredaktion wortwert. Wenn Sie Hinweise haben, Kommentare loswerden wollen, oder besondere Wünsche an unser Team haben, schreiben Sie uns gern an redaktion@esg-report.de.

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