ESG report #55: Anti-Woke-Welle | Rendite schlägt Gewissen | Zweifel am Impact

Hat Schwarz-Weiße-Denke bei ESG-Kriterien einen Sinn? Oder wäre es ratsamer, Definitionen etwas flexibler auszulegen? Es geht hier nicht um grünes Licht für Greenwashing. Im Gegenteil: Aktuell mehren sich Stimmen, die den allzu rigorosen ESG-Verfechtern eine Mitschuld an der Energiekrise geben. Weil sie wichtige Energieträger undifferenziert abgestraft und ante portas gelassen haben. Diesen Gedanken greift auch ein neuer Energien-ETF auf, der im August auf den Markt kam und damit wirbt, „sich auf Gewinne statt auf Politik zu konzentrieren“. Der Zulauf ist groß, der Ansatz alt. Und die Branche feiert und verdammt Investment-Vehikel dieser Art als Anti-Woke-Produkte. Mehr darüber in unserem Hauptstück.

Im letzten Schluck geht es um den Ex-Blackrock-Manager Terrence R. Keeley. Der argumentierte kürzlich, dass ESG-Investments eh nichts bringen. Hinter der provokanten Aussage stecken wichtige Kritikpunkte an der aktuellen ESG-Produktlandschaft. Und Lösungsideen, die einen Blick wert sind.

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Ihre ESG-Redaktion

Thema der Woche

ESG vs. Wokeness

Wenn Sie in den DRLL Strive U.S. Energy ETF investieren möchten, der am 9. August in den USA an den Start ging, können Sie ESG vergessen. Denn Nachhaltigkeit steht bei dem neuen Indextracker nun wirklich nicht im Fokus. Die Devise lautet: Gewinnmaximierung statt Aktivismus. Und dabei gern so breit und politisch unkorrekt denken wie möglich.

Dieser Ansatz kommt offenbar gut an: Seit Auflage hat der ETF, der sehr stark auf Mineralölkonzerne setzt, über 327 Millionen US-Dollar eingesammelt. Die ausdrückliche Abkehr von ESG-Kriterien begründet Vivek Ramaswamy, Chef von Strive Asset Management damit, dass der starre Fokus und das Beharren auf dem Einhalten von ESG-Kriterien die aktuelle Energiekrise nicht verhindert, sondern im Gegenteil noch befeuert habe. Die Ökos tragen also eine Teilschuld an der Strom- und Gaspreisexplosion, weil sie Branchen außen vorgelassen haben, die Engpässe hätten abfedern können, findet der Gründer des erst im Mai 2022 in Dublin gegründeten Fondsmanagers.

Das Konzept des nachhaltigen Investierens sei zur politischen Waffe verkommen, nun müsse man gegenzusteuern. Es sei, so Ramaswamy wörtlich, „an der Zeit, zu bohren, zu fracken und alles zu tun, was für den Erfolg notwendig ist, ohne sich dafür zu entschuldigen“. Ähnliche Gedankengang äußerte vor kurzem auch Michele Della Vigna, Leiter Rohstoffanalyse EMEA bei Goldman Sachs, gegenüber Bloomberg.

Kampf gegen ESG: Woke-Bewegung mit Rückenwind?

Der neue Anti-ETF ist nicht der erste seiner Art. Anbieter wie 2nd Vote Advisers oder Constrained Capital haben in der Vergangenheit ebenso unsaubere Produkte lanciert, die einen Schwerpunkt beispielsweise auf Wetten, Waffen, Alkohol, Drogen, Abtreibung oder Zensur legten. Im Fachjargon heißen die Fonds auch Anti-Woke-Produkte‘. Wobei sich Woke mit „achtsam“ oder „politisch korrekt“ übersetzen ließe.

Allerdings waren die Mittelzuflüsse bei entsprechenden Vorgänger-Produkten bisher bescheiden. Sie kommen kaum über Volumina von 25 bis 30 Millionen US-Dollar hinaus.

Bahnt sich im Asset Management nun ein neuer Kulturkampf an? Jedenfalls fällt die hohe Nachfrage bei dem ETF für fossile Energie mit einigen bemerkenswert anti-woken Entwicklungen in den USA zusammen: So hat der US-Bundesstaat Florida am 23. August eine Resolution verabschiedet, die es den dortigen Pensionsfondsmanagern verbietet, ESG-bezogene Faktoren in ihre Anlagestrategien einzubetten. Eine weitere ESG-Klatsche lieferte der US-Bundestaat Texas, der nur einen Tag später Blackrock und neun europäische Finanzhäuser für ihren Boykott fossiler Industrien kritisierte.

Auf der anderen Seite könnte es für US-Fondsanbieter bald ungemütlich werden, wenn sie sich der Nachhaltigkeit verweigern. Die US-Aufsichtsbehörde Securities Exchange Commission (SEC) hat Ende August nämlich Ergebnisse zweier Konsultationen veröffentlicht, die in höheren Anforderungen an Produktnamen und die Offenlegung enden könnten.

ESG-Ansatz: Rote Karte, grünes Licht

Wir empfehlen zur Überwindung ideologischer Gräben eine neue Farbenlehre: Manchmal etwas grauer denken, um in einer grünen Zukunft zu leben. Eine rote Karte gibt es allerdings für Anbieter, die ESG als Marketinginstrument missbrauchen. Dafür grünes Licht für den ESG-Gedanken in Reinform – in allen Lebensbereichen.

Zahl der Woche

57 Prozent ...

... mehr Menschen als im vergangenen Jahr halten finanzielle Renditen von Investments für wichtiger als deren Impact. Das zeigt eine neue Studie der Berenberg Bank. Eine Entwicklung, die angesichts des unsicheren Marktumfelds ernüchtert - aber doch nicht überrascht.

Auf einen Blick
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Ein letzter Schluck

Rendite über alles?

Es gibt kaum Belege dafür, dass der Nutzen für die Menschheit die geringere Rendite Ihrer Investition aufwiegt.

Mit diesem provokanten Zitat eröffnet Terrence R. Keeley einen Kommentar auf der Seite des Wall Street Journals. Der frühere Blackrock-Manager bezieht sich darin auf eine Studie der Universitäten von Miami, Utah und Hong Kong, die wiederum zu dem Schluss kommt: Sozial verantwortliche Investmentfonds verändern das Verhalten von Unternehmen nicht zum Besseren. Anleger, die auf Kosten von ESG auf Rendite verzichten würden, hätten daher am Ende genauso wenig davon wie die Umwelt.

Keeley provoziert. Er bringt aber auch wichtige Kritikpunkte vor - und macht Vorschläge. So fordert er, ESG-Fonds mögen doch konkrete Berichte vorlegen, in denen sie zeigen, welche Fortschritte die Investitionen ihrer Anleger bei den entsprechenden Unternehmen bewirkt haben. Außerdem müssen seiner Meinung nach die Bewertungsstandards für die Unternehmen vereinheitlicht werden, um an Aussagekraft zu gewinnen:

ESG-Ratings sind so unterschiedlich, weil die den Bewertungen zugrunde liegenden Annahmen, Methoden und Daten zwischen den ESG-Rating-Agenturen stark variieren.

Der letzte Kritikpunkt auf Keeley's Liste betrifft Haftungsausschlüsse. Am Ende langer Werbeanzeigen für beliebte nachhaltige Fonds fände man oft Sätze wie diesen: "Es gibt keine Garantie, dass ein Fonds positive oder vorteilhafte Nachhaltigkeitseigenschaften aufweist." Keeley hält dagegen: "Wir zahlen mehr für Bio-Lebensmittel, gerade weil wir glauben, dass sie wünschenswerte, geprüfte Eigenschaften haben. Wenn von nachhaltigen Investmentfonds nicht erwartet werden kann, dass sie positive Nachhaltigkeitseigenschaften aufweisen, sollten sie anders heißen."

Keeley will also, dass Anleger das bekommen, was die Anbieter ihnen und sie sich versprechen. Man müsste das eigentlich für selbstverständlich halten.

Diese Ausgabe stammt von:

Lilian Fiala + Imke Reiher

Lilian Fiala + Imke Reiher

Wir sind Redakteurinnen der Wirtschafts- und Finanzredaktion wortwert. Wenn Sie Hinweise haben, Kommentare loswerden wollen, oder besondere Wünsche an unser Team haben, schreiben Sie uns gern an redaktion@esg-report.de.

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