ESG report #54: Input vs. Output: Das große ESG-Missverständnis | Angst vor Dunkelgrün

Liebe Leserinnen und Leser,

heute steht ein irritierender und inspirierender Artikel aus der britischen Financial Times im Mittelpunkt unseres Newsletters. Er erinnert die Investmentindustrie an das vielleicht folgenschwerste ESG-Missverständnis: Ihre ureigenen ESG-Anlagekriterien sind keineswegs deckungsgleich mit dem, was sich die meisten Kunden so denken, wenn sie "nachhaltig" oder "grün" hören. Für eine Branche, die so sehr im Aufwind ist, sollte das Stück Pflichtlektüre sein. Und für Sie als Berater ein Denkanstoß, der helfen könnte, im Kundengespräch nicht mehr ständig aneinander vorbeizureden.

Weiter unten erfahren Sie dann noch, warum die Niederländer inzwischen nicht mehr nur die Fluten fürchten, sondern auch die Ebbe. Und warum es nicht unbedingt eine gute Idee sein muss, die Kirche im Dorf zu lassen.

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Ihre ESG-Redaktion

Thema der Woche

Input oder Output? Der entscheidende ESG-Unterschied

Erinnern Sie sich noch an Stuart Kirk? Über den Mann war zuletzt im Mai hier bei uns zu lesen. Da hatte er nach nicht mal einem Jahr seinen Job als "Head of Responsible Investment" bei Europas größtem Bankhaus HSBC verloren. Der Grund: Kirk, der selbst eine längere Vergangenheit als Lex-Kolumnist bei der Financial Times (FT) hat, war auf der Moral-Money-Konferenz der Zeitung aufgetreten und hatte sich aufgeregt über die große Aufregung rund um die Klimakatastrophe. Der Klimawandel komme, ja klar, aber das sei kein Grund zur Panik, und aus Sicht von Investoren sowieso mehr Chance als Bedrohung. "Je mehr über die Klimakatastrophe gesprochen wird, umso höher steigen die Kurse", erklärte Kirk. Was soll man sagen? Der Rant kam bei seinem Arbeitgeber nicht sonderlich gut an.

Das Ende der Geschichte verwandelte sich nun vor wenigen Tagen in einen neuen Anfang. Der geschasste ESG-Chef hatte erneut einen Auftritt bei der FT, diesmal im Blatt – und feuerte abermals gegen die Branche.

Sein neues Thema verdient unsere Aufmerksamkeit. Unter dem Titel "ESG must be split in two" beschreibt Kirk nämlich eines der vielleicht größten und folgenschwersten Missverständnisse in der Investment-Industrie. Es geht darum, dass Portfoliomanager etwas völlig anderes unter ESG verstehen als Investments in ethische, grüne oder nachhaltige Anlageziele. Asset-Managern geht es vielmehr um die "Berücksichtigung von Umwelt-, Sozial- und Governance-Aspekten bei der Bewertung der potenziellen risikobereinigten Rendite einer Anlage", so Kirk.

Um es gleich zu sagen: Er hält es keineswegs für verwerflich, wenn Portfoliomanager E, S und G vor allem als Input-Faktoren für ihren Investitionsprozess verstehen. Realistisch gesehen dürfte das eine überaus weit verbreitete Idee sein. Denn machen wir uns nichts vor: Auch beim ESG-Investing geht es in erster Linie ums Geld, also um den Gewinn. Etwas feiner drückt das Martin Weirich aus, der für ESG-Themen zuständige Partner bei PwC Deutschland: "Neben den zukünftigen regulatorischen Anforderungen sehen wir eine steigende Nachfrage bei Investoren nach ESG-Investmentstrategien. Diese Entwicklung bietet unseren Kunden große Chancen, zusätzliche Ertragspotenziale zu realisieren und Marktanteile zu sichern."

Die Tragik liegt nun aber darin, dass Laien bei ESG in der Regel daran denken, mit ihrem Geld etwas Gutes zu tun. Die meisten Menschen suchen dabei keine Kompromisse zwischen Rendite und Moral, und schon keine gar besonders großen Ertragschancen. Sie wollen in erster Linie einen bestimmten ESG-Output erzielen, indem sie in nachhaltige Unternehmen investieren.

Und das ist etwas völlig anderes.

Wo ESG-Kriterien nämlich bloß ein paar Input-Faktoren unter vielen bei der Unternehmensauswahl sind, schafft es problemlos auch mal ein Umweltsünder oder ein Ölkonzern ins Depot. "Greenwashing existiert in einem ESG-Input-Kontext nicht, weil es gar nicht um Nachhaltigkeit geht", schreibt Kirk – und ergänzt spitz: "Haben deutsche Aufsichtsbehörden jemals ein Büro gestürmt, weil ein Value-Manager zu viele Wachstumsaktien gekauft hat? Nein."

Bei Output-Fonds ist die Lage aber nicht viel besser. Denn dort fehlen – das ist tatsächlich keine große Erkenntnis – dringend notwendige gemeinsame Standards und Zielvorgaben. Es ist sogar noch schlimmer: Die meisten Fonds, die Output – man könnte auch sagen Impact – erzielen wollen, nutzen für die Bewertung aus Mangel an Alternativen ebenfalls Input-Faktoren für die Auswahl ihrer Anlageziele. Kirk schließt optimistisch:

A bright future for both forms of ESG is possible if each makes sense on its own terms.

Wir schließen uns an – und danken für einen klugen Beitrag zu einer Debatte, die uns alle noch beschäftigen wird.

Zahl der Woche

3 Millionen ...

... Haushalte soll das Offshore-Windkraftprojekt Bornholm Energy Island beliefern. Es ist ein gemeinsames Vorhaben von Deutschland und Dänemark, das die Regierungen beider Länder jetzt vorantreiben wollen.

Laut einer Pressemitteilung des dänischen Ministeriums für Klima, Energie und Versorgung wurde der Umfang des Projekts aus Gründen des Klimawandels und der Energiesicherheit um 50 Prozent auf eine Kapazität von drei Gigawatt erweitert. In der Pressemitteilung wird auch zu mehr internationaler Zusammenarbeit aufgerufen, "um die Treibhausgasemissionen weiter zu reduzieren und Europa von russischem Gas und Öl unabhängig zu machen".

Um die dänische Ostseeinsel Bornholm mit dem deutschen Stromnetz zu verbinden, muss zunächst ein 470 Kilometer langes Unterwasserkabel verlegt werden. Ab 2030 soll das gemeinsame Projekt die CO2-Emissionen in Deutschland um 3,5 Millionen Tonnen jährlich reduzieren.

Auf einen Blick
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Ein letzter Schluck

"Die Kirche im Dorf lassen"

In einem Interview mit cash-online muss sich Daniel Regensburger, Geschäftsführer von Pangaea Life, erklären: Warum bietet die Bayerische-Tochter, die sich eigentlich auf nachhaltige Produkte spezialisiert hat, Produkte nach Artikel 8 der EU-Offenlegungsverordnung an, aber keine dunkegrünen Fonds nach Artikel 9?

Eigentlich brüstet sich Pangaea Life damit, nachhaltige Fonds zur Selbstverständlichkeit für Kunden und Berater machen zu wollen. Die Antwort von Regensburger ist ernüchternd. Er sagt:

Dunkelgrüne Fonds müssen ihren Impact im Detail belegen können über die ganze Lieferkette hinweg. (...) Wenn ich als Vermittler ein dunkelgrünes Produkt anpreise, und zwei Jahre später kommt raus, dass der Fonds doch nicht so grün ist, kann das aus unserer Sicht ein Supergau werden. Dann lieber die Kirche im Dorf lassen.

Diese Angst ist zunächst einmal nicht unverständlich. Doch sie ist auch Teil einer Denkweise, die der Zukunft von ESG-Investments im Weg steht. Denn wenn alle "die Kirche im Dorf" lassen, anstatt an der Umsetzung dunkelgrüner Produkte zu arbeiten, entsteht eine fatale Wartehaltung. Aus Angst vor Fehlern nichts zu tun, das war noch nie eine zukunftsfähige Herangehensweise. Und Zeit zum Däumchen drehen bleibt in der Klimakrise nun mal nicht.

Diese Ausgabe stammt von:

Lilian Fiala + Olaf Wittrock

Lilian Fiala + Olaf Wittrock

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