ESG report #48: Stichtag 2.8. | Wenig Vertrauen | Viel Hoffnung
Liebe Leserinnen und Leser,
was haben Sie am kommenden Dienstag vor? Und entspricht dieses Vorhaben Ihren Nachhaltigkeitspräferenzen?
Wenn Sie jetzt denken, was wollen die denn von mir, haben wir eine unangenehme Wahrheit: Sie werden sich mit der Frage nach den Präferenzen künftig weitaus häufiger befassen – ob Sie wollen oder nicht. Als Beraterin oder Berater kommen Sie nicht mehr darum herum, Ihre Kundinnen und Kunden nach ESG-Kriterien zu beraten, wenn die sich für Nachhaltigkeit auch nur im Ansatz interessieren. So will es der Gesetzgeber, so will es die EU, und so wollen es immer mehr Investoren.
Fünf Tage vor der der vertrieblichen Zeitenwende haben wir daher für Sie einige praktische Leitfäden herausgesucht, die Ihnen helfen, die neuen Gesetze im Alltag zu befolgen und nachhaltiger zu beraten. Das meiste davon ist kostenlos. Greifen Sie zu.
Wir wünschen Ihnen eine gute Lektüre und einen glatten Start in die neue Wirklichkeit!
Wie immer freuen wir uns über Ihr Feedback an redaktion@esg-report.de – und natürlich über Ihre Weiterempfehlung.
Ihre ESG-Redaktion
Präferenzabfrage: Der Countdown läuft

Es ist seit Monaten ein bestimmendes Thema im Finanzvertrieb – am kommenden Dienstag folgt dann auf lange theoretische Debatten der erste Praxistest. Die Nachhaltigkeitspräferenzabfrage wird am 2.8. zum Pflichtprogramm für alle Beraterinnen und Berater (naja, jedenfalls fast alle - siehe unser heutiger Letzter Schluck). Grundlage dafür ist eine gesetzliche Ergänzung bei den MiFID-II-Vorgaben, der maßgeblichen EU-weiten Richtlinie EU-Richtlinie für Anlegerschutz beim Wertpapierhandel. Einfach gesagt: Die EU will, dass demnächst alle Kundinnen und Kunden um mögliche negative Auswirkungen eines Finanzinstruments auf Umwelt und Gesellschaft wissen – und entscheiden können, ob und wie viele dieser Nebenwirkungen sie bereit sind zu tragen.
Praktisch bedeutet das für Ihre Arbeit im Vertrieb: Sie müssen das Dreieck der Geldanlage endgültig aus Ihrem Vokabular verbannen. Es gilt fortan das Viereck der Geldanlage. Entscheidungen richten sich an den Kriterien Rendite, Sicherheit, Verfügbarkeit und Nachhaltigkeit.
Der Einstieg ins Beratungsgespräch wird also von einer neuen Frage geleitet, die in etwa so lautet: Haben Sie Interesse an nachhaltigen Finanzprodukten? Wenn jetzt kein kategorisches Nein folgt, geht es weiter, mit präzisen Fragen. Dabei haben Sie zu ergründen, inwieweit Kundinnen und Kunden negative Folgen einer Anlageentscheidung auf Umwelt, Soziales oder Verstöße gegen die Regeln guter Unternehmensführung vermeiden wollen. Zudem sind Sie auch verpflichtet, die Einstellung zu Finanzinstrumenten abzufragen, die eine positive Wirkung entfalten können.
Wenn Sie da durch sind, kommt der Produktteil – und sie geben Empfehlungen, die den Präferenzen entsprechen. Gilt für Fonds genauso wie für Versicherungen – auch wenn die Gelehrten noch darüber streiten, welche Altersvorsorgeprodukte nun ganz genau von der neuen Beratungspflicht umfasst sind und wie diese im Detail abzulaufen hat.
Im Alltag wird sich also ein neues Procedere einspielen – und auch wenn die Texte der Verordnung nicht in allen Bereichen glasklar formuliert sind, haben Ratingagenturen und andere Dienstleister inzwischen einige Werkzeuge vorgelegt, um die neue Aufgabe im Alltag zu stemmen. In den kommenden Monaten werden sicherlich weitere Tools dazu kommen.
Hier eine Auswahl mit Angeboten, die bereits am Markt sind:
- Der Verein „Forum Nachhaltige Geldanlagen“ hält kostenlos einen Leitfaden zur Abfrage der Nachhaltigkeitspräferenz bereit, den mal jüngst für die neue Ära ab 2.8. aktualisiert hat. Auf sechs Seiten skizziert ein PDF kompakt und systematisch den vom Gesetzgeber vorgeschriebenen Gesprächsverlauf. Ein Begleitdokument erläutert weitere Hintergründe.
- Das DEFINO Institut für Finanznorm hat maßgeblich an der runderneuerten DIN-Norm zur „Basis-Finanzanalyse für den Privathaushalt“ (es geht um die DIN 77230. Wir haben darüber bereits im Februar berichtet) mitgewirkt. Nun ist aus dem neuen Norm-Modul zur Präferenzabfrage ein DIN-zertifizierter Online-Fragebogen entstanden, der „ESG-Profiler“. DEFINO will damit nicht nur Rechtssicherheit schaffen und einen einfachen Abfragemechanismus anbieten, sondern die Ergebnisse auch anonymisiert auswerten, um Daten über die wahren Wünsche der Kundschaft zu gewinnen. Die Lizenz für das Tool kostet 149 Euro jährlich. Dafür fällt am Ende auch noch eine Liste mit geeigneten Produkten raus. Hierfür kommen Daten der Analysten von Morgen & Morgen und von Zielke Research Consult zum Einsatz, die mit DEFINO kooperieren.
- Auch die Europäische Versicherungsaufsicht EIOPA hat vor wenigen Tagen einen Leitfaden veröffentlicht, der sich insbesondere an Versicherungsvermittler richtet und das teils komplizierte Regelwerk in eine verständlichere Sprache übersetzen soll. Das PDF ist 30 Seiten lang und bisher leider nur in englischer Sprache erhältlich. Ein Blick lohnt sich, zumal hier auch hinweise darüber zu finden sind, wie Beraterinnen und Berater die Präferenzen regelmäßig überprüfen sollen.

- Einen weiteren kostenlosen Leitfaden für Finanzdienstleister gibt es von der Wirtschaftskammer Österreich. Hier sind auf 25 Seiten viele Alltagshinweise zur Beratung versammelt, etwa der, dass es nicht reicht, Kunden einfach nach Nachhaltigkeit zu befragen, wenn diese gar nicht wissen, was hinter dem Begriff steckt. Die WKO-Experten raten daher, im Zweifelsfall zusätzliche Fragen in den Beratungsprozess einzubinden, um das Verständnis des Kunden abzufragen – und liefert direkt passende Bausteine für ein solches Gespräch mit.

- Der letzte Tipp mit Formulierungshilfen gilt einem gemeinsamen Empfehlungspapier des Bundesverbands Finanzdienstleistung AfW und des Verbands Unabhängiger Finanzdienstleistungs-Unternehmen in Europa (VOTUM). Hier geht es weniger um das Gespräch selbst, als um Informationspflichten beim Internetauftritt und bei der Beratungsdokumentation. Die Texte sind quasi Disclaimer, die helfen sollen, Vorschriften aus der EU-Transparenzverordnung (TVO) zu erfüllen.
Unser Rat:
Wenn Sie es noch nicht getan haben, wird es jetzt höchste Zeit: Nutzen Sie die vielen kostenlosen Infos rund ums Beratungsgespräch und bereiten Sie sich vor auf die neue Zeit. Das Thema Nachhaltigkeit im Kundengespräch einfach außen vor zu lassen, ist ab Dienstag nämlich nicht mehr möglich.

72 Prozent ...
… der leitenden Entscheidungsträger haben kein Vertrauen in die ESG-Daten, die sie an ihre Stakeholder berichten. Das ergab eine globale Umfrage des IT-Anbieters Workvia in insgesamt 1.300 Unternehmen unterschiedlicher Branchen. Die Umfrageteilnehmer befassen sich in ihrem Job ganz oder teilweise mit der Nachhaltigkeitsberichterstattung in ihrer Organisation.
Wir fragen uns: Wenn nicht mal die Manager den eigenen Daten vertrauen, wie gehen wir dann mit vermeintlich grünen Fonds um? Der wenig verwunderliche Lösungsvorschlag des Softwareunternehmens: die richtigen Tools anschaffen.

Was uns diese Woche noch auffiel
ESG verletzt Grundrechte
In diesem höchst kritischen Meinungsstück aus den USA bemängeln die Autoren ESG-Vorschriften der Biden-Regierung. Verwalter von Renten- und Pensionsfonds würden dazu gezwungen werden, in „politisch korrekte“, aber verlustbringende ESG-Strategien zu investieren. Grüne Investments würden damit das Grundrecht eines jeden Rentners verletzen: Dass ihre eingezahlten Beiträge ausschließlich zur Förderung ihrer finanziellen Interessen investiert werden.

Wie Banken das Thema ESG doch noch in den Griff bekommen
Erst der branchenweite ESG-Hype, dann die „Greenwashing“-Affären: War’s das schon wieder mit der Nachhaltigkeit? In diesem halbstündigen Podcast spricht Christian Kirchner von finanz-szene.de mit Consileon-Geschäftsführer Ralph Hientzsch über die Frage, ob sich die Finanzbranche in Sachen Nachhaltigkeit neu erfinden muss.
ESG-Vergleich: Aktien vs. Anleihen
Das Bankhaus Metzler hat in einer neuen kompakten Studie die Fallstricke in Sachen ESG-Integration bei Unternehmensanleihen analysiert. Ein interessanter Punkt: Die aktienbasierten ESG-Ratings sollten für Unternehmensanleihen adjustiert werden. Denn in ihrer herkömmlichen Form identifizieren sie kurzfristige Risiken nicht in einem ausreichenden Maße. Das kann gerade für Anleiheinvestoren innerhalb der Restlaufzeit eine wichtige Rolle spielen.

Das Prinzip Hoffnung
Viele von Ihnen müssen Kunden also ab nächster Woche fragen, ob sie nachhaltig investieren möchten. Ist ein grünes Gewissen vorhanden, müssen Sie Ihre Anlageempfehlungen entsprechend anpassen. Doch wie immer gilt: keine Ausnahme ohne Regel - und sei sie noch so absurd.
Denn wie das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) gegenüber dem Vermittlerverband Votum bestätigt hat, sind gewerbliche Finanzberater von der neuen Regel ausgenommen. Im Klartext heißt das, dass 34f-Vermittler auch nach dem 2. August Fondssparpläne vermitteln dürfen, ohne vorab die Nachhaltigkeitspräferenzen ihrer Kundinnen zu ermitteln.
Zwar geht der Votum-Geschäftsführer Martin Klein davon aus, dass der Gesetzgeber früher oder später nachjustieren dürfte. Vorerst hofft das Ministerium aber einfach darauf, dass die Finanzanlagevermittler freiwillig handeln.
Das ist gleich aus zweierlei Hinsicht ärgerlich: Einerseits funktioniert das mit der freiwilligen Selbstkontrolle, wir wir alle wissen, gerade in der Finanzwelt nicht all zu gut. Diese Lücke widerspricht damit direkt dem Nachhaltigkeitsgedanken, der die Verordnung schließlich leitet. Und andererseits verkompliziert eine solche Ausnahme die ohnehin unübersichtliche Gemengelange für alle Beteiligten nochmal weiter.
Diese Ausgabe stammt von:

Udo Trichtl + Olaf Wittrock
Wir sind Redakteure in der Wirtschafts- und Finanzredaktion wortwert. Wenn Sie Hinweise haben, Kommentare loswerden wollen, oder besondere Wünsche an unser Team haben, schreiben Sie uns gern an redaktion@esg-report.de.