ESG report #38: Wie zukunftsfit ist unser Finanzssystem? I Der Fall Fynn Kliemann

Liebe Leserinnen und Leser,

finden Sie auch, dass das Thema Sustainable Finance aus der Orchideenecke rausgeholt gehört? Dieser blumige Appell ertönte jüngst auf einer Sitzung des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung. Klingt hübscher als es gemeint ist. Denn im Kern behauptet der Satz ja: Bisher war Nachhaltigkeit im Finanzwesen bloß ein Deko-Element.

Wir haben bei Grünen-Politikerin Kristina Jeromin, von der die Forderung kommt, nachgehakt, wie sie den Satz meint, wie sie unser Finanzsystem zukunftsfit machen will – und was der Finanzvertrieb dazu beitragen kann. Im Interview äußert sie auch sehr offene Kritik am Verhalten der Finanzaufsicht Bafin – lesenswert!

Sich mit Nachhaltigkeitsversprechen zu schmücken, das gehörte auch zur gängigen PR-Praxis des lang umjubelten Jungunternehmers Fynn Kliemann. Bis der Satiriker Jan Böhmermann ihm einen Strich durch die Rechnung machte. Nun ist klar: Wenn Menschen sich "fairarscht" fühlen, hat das Folgen – und zwar nachhaltig. Dazu mehr im "Letzten Schluck".

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Thema der Woche

Wie zukunftsfit sind wir, Frau Jeromin?

„Deutschland zu führendem Sustainable-Finance-Standort machen": So lautet die Überschrift einer Meldung auf der Website des Deutschen Bundestags. Hört sich gut an, ist aber leider kein Tagesordnungspunkt, den das Parlament im Sprint abhaken könnte. Sondern eher eine Aufgabe für Langstreckenläufer. Oder noch besser: Hürdenläufer. Jedenfalls waren diejenigen, die die Transformation herbeisehen, zuletzt einigermaßen frustriert von der Entscheidung der Bafin, bei der ESG-Verbindlichkeit erstmal wieder kräftig zu bremsen.

„Unser Finanzsystem ist aktuell noch nicht zukunftsfit“, gab folgerichtig Kristina Jeromin am 12. Mai während der Sitzung des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung zu Protokoll. Sie ist Geschäftsführerin des Green and Sustainable Finance Cluster Germany – und sozusagen von Amts wegen unzufrieden. Jeromin hat einige Erfahrung in dem Bereich: Von 2016 bis 2020 war sie bereits Chefin des Nachhaltigkeitsbereichs bei der Deutschen Börse. Ihr aktuelles Credo lautet, etwas umständlich verpackt: „Wir können das Potenzial unseres Finanzsystems nicht ungenutzt lassen, wenn wir wettbewerbsfähig und widerstandfähig hinsichtlich unserer wirtschaftlichen Wertschöpfung sein wollen.“ Übersetzt: Machen wir im Finanzwesen weiter wie bisher, riskieren wir schon bald Wachstum.

Wir haben bei der Grünen-Politikerin nachgefragt, was zur Zukunftsfitness denn genau fehlt – und welchen Beitrag der Finanzvertrieb leisten kann.

Kristina Jeromin (c) Green and Sustainable Finance Cluster Germany

Frau Jeromin, Sie halten unser Finanzsystem aktuell nicht für zukunftsfit. Was fehlt?

Kristina Jeromin: Wir befinden uns in den Anfängen einer umfassenden Transformation unserer wirtschaftlichen Wertschöpfung. Der notwendige Umbau hin zu widerstands- und zukunftsfähigen Wirtschaftsstrukturen ist kostenintensiv. Neben einer zielgerichteten staatlichen Finanzierung bedarf er den Einsatz von privatem Kapital. Ein Finanzsystem ist in meinen Augen dann zukunftsfit, wenn diesen Finanzierungsbedarfen gezielt und in der notwendigen Geschwindigkeit Rechnung tragen kann. Das heißt, wenn Kapitalallokation basierend auf ganzheitlichen sowie langfristigen Risiko- und Chanceneinschätzung erfolgt und die Wirksamkeit der Investitionen fortlaufend gemessen wird. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass ein enger Schulterschluss zwischen Realwirtschaft, Finanzbranche und Politik unbedingte Voraussetzung für das Gelingen der Transformation ist.

Und wie kann der Staat Anreize setzen für die nötigen privatwirtschaftlichen Investitionen in die Transformation?

Hier steht ein umfassender Instrumentenkoffer zur Verfügung. Von staatlich gesetzten Preissignalen, über die Implementierung verbindlicher Transformationspfade und den Ausbau von Transparenz, der Schaffung verlässlicher Standards bis hin zu gezielten Bildungsinitiativen und dem Abbau von Bürokratie. Es reicht nicht aus, an einem Rädchen zu drehen, um ein hochkomplexes System so auszurichten, dass es den zeitgenössischen Herausforderungen erfolgreich begegnen kann. Der ehemalige Sustainable-Finance-Beirat der Bundesregierung hat im Februar 2021 31 Empfehlungen vorgelegt, die genau diese Bandbreite an Instrumenten und Initiativen, aber auch die Notwendigkeit ihres Zusammenspiels beleuchten.

Inwiefern kann der Finanzvertrieb helfen, das Thema aus der Orchideenecke zu holen, wie Sie sagen?

Aufklärung und Dialog sind hervorragende Möglichkeiten, Verständnis zu schaffen und Vorurteile abzubauen. Entsprechend eignet sich eine gezielte Präferenzabfrage dazu, das Thema Nachhaltigkeit in das Bewusstsein der Kundschaft und damit auch weiter in den Markt zu tragen. Letztlich sind wir alle auf unterschiedlichste Formen mit dem Finanzsystem verbunden und haben in diesen verschiedenen Rollen das Recht auf umfangreiche Information hinsichtlich der Wirkung der jeweiligen Finanzströme. Ob es um unsere privaten Sparpläne oder Altersvorsorge geht, bis hin zu der Frage wie beispielsweise Steuergelder eingesetzt werden oder auch darum, welche Konsequenzen einzelne Kaufentscheidungen haben. Das Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger und die damit einhergehende Verantwortung zu schärfen, ist ein wichtiger Baustein im Fundament eines zukunftsfähigen Finanzsystems.

Die Bafin ist nun erst einmal auf die Bremse getreten und hat die ESG-Richtlinie für Investmentfonds wegen des Kriegs in der Ukraine auf Eis gelegt. Wie beurteilen Sie diesen Schritt?

Es ist in jedem Fall ein Stillstand. Denn wann wären verlässliche Standards für nachhaltigkeitswirksame Finanzprodukte relevanter als in diesen Zeiten, in denen es darum geht, die Energiewende mit allen Mitteln zu beschleunigen?! Mich erschreckt vor allem, dass es nach wie vor vertretbar zu sein scheint, Wertdimensionen, die ganz offensichtlich eng miteinander verknüpft sind, gegeneinander auszuspielen. Das ökologisch und sozial Gebotene ist untrennbar mit dem ökonomische Sinnvollen verbunden. Und wir brauchen dringend eine Wertschöpfungsstrategie, die dieser Tatsache Rechnung trägt – auch und gerade in Krisenzeiten. Meine Erwartung an Aufsichtsbehörden wie die Bafin wäre, dass sie mit gutem Beispiel vorangehen und nicht, dass sie die Schere in den Köpfen weiter befördern.

Fonds der Woche

Der Transformierer

Pictet Climate Government Bond Fonds


  • Unternehmen: Pictet Asset Management
  • Gattung: Anleihenfonds
  • Auflagedatum: 05.05.2022
  • ISIN: LU2468122929
  • Fondsvolumen: 42 Millionen Euro
  • Gesamte laufende Kosten: 0,32 %
  • Ausgabeaufschlag: 5,00 %


Was macht den Fonds zum Klima-Investment?

Der Pictet Climate Government Bond Fonds orientiert sich an der CO2-Strategie von Industrie- und Schwellenländern. Einerseits gehören Schwellenländer relativ betrachtet zu den weltweit größten Verschmutzern, gleichzeitig können sie aber auch einen wichtigen Beitrag leisten. Zumal sie häufig auch besonders stark unter den Folgen von extremen Wetterereignissen leiden. Das Fondsmanagement investiert in jene Länder, deren Kohlenstoffemissionen sowohl in absoluten Zahlen als auch gemessen an ihrer Wirtschaftsleistung am schnellsten sinken. Also genau die Staaten, die in Sachen nachhaltiger Transformation am zügigsten vorankommen.

Der Fonds ist ein Artikel-9-Produkt und berücksichtigt bei der Auswahl nur Länder, die das Pariser Klimaabkommen unterzeichnet haben.

Was macht den Fonds noch interessant?

Um auf die richtigen Länder zu setzen, lässt sich das Fondsmanagement von einem externen Beirat aus Klimaexpertinnen und -experten beraten. Dort sitzen Koryphäen wie Michael Köhl, Leiter des Instituts für Weltforstwirtschaft der Universität Hamburg, Joeri Rogelj, Forschungsleiter und Juniorprofessor für Klimawandel und Umwelt am Grantham Institute des Imperial College in London, oder auch Vaclav Smil, emeritierter Professor für Umweltwissenschaften von der Universität Manitoba in Winnipeg.

Auf einen Blick

Was uns diese Woche noch auffiel

Grüne Tecs performen besser

Grüne Tecs performen besser

Unternehmen der Technologiebranche mit guten ESG-Bewertungen erzielen an den Finanzmärkten höhere Bewertungen als weniger nachhaltige. Das zeigt jetzt eine Studie des Global Technology Leaders Team von Janus Henderson. Schlussfolgerung der Autoren: ESG-Faktoren sollten ein wesentlicher Bestandteil des Investmentprozesses sein.

ING koppelt Preise an Nachhaltigkeit

ING koppelt Preise an Nachhaltigkeit

Günstige Konditionen gibt es bei der niederländischen ING bald nur noch mit gutem ESG-Rating. Das Finanzinstitut koppelt künftig die Kosten seiner Finanzprodukte an die Nachhaltigkeit der Firmenkunden. Mit diesem Schritt will die Bank mehr nachhaltige Unternehmen als Kunden gewinnen. In Deutschland ist bereits ein Pilotprojekt gestartet: Quotierungen hängen nicht mehr ausschließlich von internen Bonitäts- und Rentabilitätskennzahlen ab, sondern eben auch von der aktuellen ESG-Performance.

Neuer Test gegen Korruption

Neuer Test gegen Korruption

Der Vermögensverwalter Van Lanschot Kempen will Korruption vollständig aus seinen ESG-Produkten verbannen. Dazu hat das Investmenthaus extra einen neuen Test entwickelt. ESG-Fondsmanager, die bis vor kurzem russische Staatsanleihen und Aktien von in Staatsbesitz befindlichen Öl- und Gasriesen im Portfolio hatten, müssen damit genauso umdenken wie jene, die stark in China-Assets investiert sind.

Ein letzter Schluck

Fairarscht!

Fynn Kliemann war der Held der Fridays-for-Future-Jugend. Derjenigen, die am liebsten alles richtig machen würden. Auf seinen Social-Media-Kanälen präsentierte sich der Youtuber und Musiker als ökologisches und soziales Gewissen seiner Generation: Er redete gern und viel über soziale Projekte, spendete, verkaufte faire Kleidung und Masken über sein Klamottenlabel Oderso. Und bemühte sich einfach, ein rundum guter Typ zu sein.

Dass er das nicht nur ist, legte inzwischen ein investigatives Team um Satiriker Jan Böhmermann und die Journalistin Hanna Herbst offen. Demnach importierte der Influencer angeblich fair produzierte Corona-Masken nicht, wie er behauptete, aus Portugal oder Serbien, sondern aus Bangladesch und Vietnam. Arbeiterinnen und Arbeiter nähten die Masken dort offenbar zum Niedriglohn, während sich Kliemann hierzulande für schnell gelieferte Masken aus angeblich fairer Produktion feiern und gut bezahlen ließ. Nicht nur ökologisch, auch menschlich war der Maskendeal ein Flop: Denn Kliemann hatte auch noch einen Teil der Masken an Flüchtlingslager gespendet. Klingt eigentlich gut, doch diese Masken entpuppten sich als fehlerhaft und damit unbrauchbar.

Das ist doch scheiße. Kann man nicht einmal an etwas Gutes glauben, ohne am Ende enttäuscht zu werden?

So fasst eine Youtube-Nutzerin das Gefühl ihrer nun enttäuschten Generation zusammen. Laut einer Studie der Agentur Odaline und des Marktforschers Appinio geben 82 Prozent der Befragten an, dass der Fall ihr Vertrauen in die Kennzeichnung nachhaltiger Produkte beeinflussen wird. Das zeigt: Die Kliemann-Demontage trifft die Nachhaltigkeits-Branche ins Mark, vor allem wohl in der jungen Zielgruppe. Doch wie kann sie sich künftig vor solchen Debakeln schützen? Vertrauensverluste lassen sich schwer ausgleichen.

Hilft letztlich nur eins: Die ESG-Branche muss aufhören, Geschichten aus ihrer Orchideenecke heraus zu erzählen. Womit wir wieder am Anfang dieses Newsletters wären. Und bei der Erkenntnis: Transparenz wird immer wichtiger bei Anlageentscheidungen. Um diese zu garantieren, helfen keine schönen Worte, sondern nur Fakten.

Diese Ausgabe stammt von:

Anne Hünninghaus + Marilena Piesker

Anne Hünninghaus + Marilena Piesker

Wir sind Redakteurinnen der Wirtschafts- und Finanzredaktion wortwert. Wenn Sie Hinweise haben, Kommentare loswerden wollen, oder besondere Wünsche an unser Team haben, schreiben Sie uns gern an redaktion@esg-report.de.

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