ESG report #27: Der richtige Ton in schwierigen Zeiten I Soziale Verantwortung

Liebe Leserinnen und Leser,

in Europa herrscht Krieg. Das ist zuallererst eine humanitäre Katastrophe. Zugleich hat das, was gerade in der Ukraine passiert, auch erhebliche Folgen für die Finanzmärkte. Daran besteht kein Zweifel, und doch fühlt es sich seltsam an, in diesen Tagen darüber zu sprechen und zu schreiben. Uns, den Journalistinnen, aber auch Anlegerinnen und Finanzprofis.

Wir beschäftigen uns daher in dieser Ausgabe mit dem angemessenen Ton in einer herausfordernden Zeit.

Außerdem: Wie Unternehmen politische Verantwortung übernehmen. Und was geopolitische Risiken mit ESG zu tun haben.

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Ihre ESG-Redaktion

These der Woche

Den richtigen Ton gibt es nicht

Wladimir Putin hat die Ukraine angegriffen. Menschen sind gestorben und werden sterben, Hunderttausende müssen vor einem Krieg fliehen, den vor wenigen Wochen kaum jemand in dieser Gestalt für denkbar gehalten hat. Die Welt ist erschüttert, betroffen und zutiefst verunsichert.

Die Verunsicherung spürt auch Claudia Müller: Immer wieder erhält die Gründerin des Female Finance Forums, die vor allem Frauen in Sachen Geldanlage berät, dieser Tage Anrufe von Menschen, die helfen wollen, und die abgestoßen sind von dem Gedanken, dass sie durch ihre Anlagestrategie womöglich noch Rendite aus dem Krieg und dem Leid anderer Menschen schlagen. Es sind Menschen, die sich mit den Ukrainern und Ukrainerinnen solidarisch zeigen wollen, und die zugleich nicht wissen, was der Krieg für ihre Portfolios bedeutet. Was es heißt, wenn die Börsen schließen oder russische Aktien aus den Indizes von MSCI fliegen.

Viele dieser Menschen haben Angst um ihre Ersparnisse.

Da den richtigen Ton zu finden, ist für Vermittler und Finanzberaterinnen nicht einfach. Es gibt keine Blaupause für Geldanlage in Kriegszeiten. Die Finanzprofis sind oft genauso überfordert wie alle anderen. Und auch ihre Antworten sind hochemotional.

So ist es nicht verwunderlich, dass Botschaften mancher Fondshäuser gerade irritieren; etwa indem sie propagieren, dass genau jetzt der richtige Zeitpunkt sei, an den Börsen einzusteigen. Oder dass bei einem raschen Ende die Börsen sich schneller wieder erholen dürften. So geht mit Beginn dieses Krieges auch ein kommunikativer Wandel an den Finanzmärkten einher, wie andere Beispiele in der Kommunikation bereits zeigen: Am Mittwochmorgen postete beispielsweise die DZ-Bank bei LinkedIn:

#Ukraine

Wie können Vermittlerinnen und Berater aktuell mit ihren Kunden kommunizieren? Darüber haben wir auch mit Finance-Forum-Gründerin Müller gesprochen.

Claudia Müller (c) Tim Wegner

Frau Müller, wie sprechen Beratende in dieser schwierigen Situation mit ihren Kunden?

Claudia Müller: Emotionen spielen aktuell überall mit rein – wenn ich mit ratsuchenden Menschen spreche, versuche ich immer zuerst herauszufinden, welches Problem sie gerade haben und ihnen dann zu einer eigenen Meinung zu verhelfen. Viele Anlegerinnen wissen zum Beispiel nicht, ob es gerade okay ist, zu investieren.

Und ist es das?

Ich rate Folgendes: Wenn jemand bereits investiert ist, sollte die Person in der jetzigen Situation lieber abwarten. Wer hingegen schon lange eine Strategie aufgebaut und bislang immer auf den richtigen Zeitpunkt gewartet hat, einzusteigen, für den könnte es eine gute Zeit sein, um zu investieren. Denn eins ist klar: Es geht den Menschen in der Ukraine nicht schlechter, wenn Anleger ihre Ersparnisse an die Börse bringen.

Können sich Fonds in Anbetracht der aktuellen Lage eigentlich überhaupt noch nachhaltig nennen, wenn sie in russische Unternehmen investiert sind?

Ich finde, diese Frage geht zu weit. Genauso wenig, wie ich alle russischen Menschen verurteilen sollte, sollte ich auch nicht alle russischen Unternehmen über einen Kamm scheren. Sicherlich würde ich nicht in russische Staatsunternehmen oder Gazprom investieren, aber bei vielen anderen russischen Unternehmen sollten Anlegerinnen ein Investment im Einzelfall prüfen. Allerdings dürften viele ESG-Fonds die Regionen Russland oder auch China wegen geopolitischer Bedenken mittlerweile zumindest zeitweise aussortiert haben.

Was denken Sie: Wird die Finanzbranche geopolitische Risiken bei ESG-Investments künftig insgesamt stärker berücksichtigen?

Ich bin sicher, dass geopolitische Risiken für Anleger und Investorinnen künftig wichtiger werden. Moralische Fragen sind durch den Krieg präsent wie nie. Die Diskussion um geopolitische Risiken in der Geldanlage kam zwar unlängst schon mal auf; als es um Menschenrechte in China und den Umgang mit den Uiguren ging. Aber so dramatisch wie jetzt habe ich das noch nicht erlebt. Ich erwarte allerdings auch, dass sich die Finanzbranche gerade, was das Thema Rüstung angeht, in zwei Lager aufspalten wird: Die einen wollen, dass Rüstungsunternehmen – eben aufgrund solcher militärischen Konflikte – bei ESG Investments dauerhaft ausgeschlossen werden. Die anderen wünschen sich wiederum einen Nachhaltigkeitsstempel für die Rüstungsindustrie, um mehr Gelder in die Branche zu ziehen. Schließlich könnte es nötig sein, dass Deutschland sich militärisch verteidigen können muss.

Zahl der Woche

Plus 49 Prozent

Einen Rekordsprung um fast die Hälfte legte die Rheinmetall-Aktie am Montag hin – kurz nach der inzwischen koalitionsintern umstrittenen Verkündung von Bundeskanzler Scholz, 100 Milliarden Euro extra in eine bessere Ausstattung der Bundeswehr zu investieren. Rüstungsunternehmen, wer hätte das gedacht, gelten nun wieder als Zukunftswerte.

An diesen Gedanken müssen sich viele erst einmal gewöhnen. Dem Nachhaltigkeitsgedanken stärker entgegen kommen da schon die Kurssprünge von Ökostromanbietern. Sie fußen unter anderem auf den folgenden denkwürdigen Politikerzitaten der vergangenen Tage:

Die Bedeutung der Energiesicherheit erfährt eine neue Priorität. Erneuerbare Energien lösen uns von Abhängigkeiten. Erneuerbare Energien sind Freiheitsenergien.

Das sagte Bundesfinanzminister Christian Lindner am Sonntag im Bundestag. Wirtschaftsminister Robert Habeck schob nach:

Das ist die einzige Energieform, die niemandem gehört und wo keiner sagen kann 'alles meins und damit erpresse ich euch'. Wind und Sonne – die gehören niemandem, die gehören der Menschheit, man muss sie nur auffangen.
Auf einen Blick

Was uns diese Woche noch auffiel

Taxonomie: "S" nimmt Gestalt an

Taxonomie: "S" nimmt Gestalt an

Soziale Wohnungsbaugesellschaften hui, Tabakgeschäfte pfui. Am Montag hat eine von der EU-Kommission beauftragte Expertengruppe eine Empfehlung präsentiert, wie sich die Sozialtaxonomie ausgestalten ließe. Dank der zusätzlichen Angaben zum Beispiel, wie gut Produzenten ihre Beschäftigten entlohnen und wie sozial nützlich Geschäftsmodelle sind, sollen Investitionen gefördert werden. Der aktuell wieder heiß diskutierten Forderung der Rüstungsunternehmen, aufgrund ihrer Sicherheitsfunktion als nachhaltig gelten zu dürfen, kamen die Fachleute nicht nach.

EU-Lieferketten-Richtlinie sieht Verschärfungen vor

EU-Lieferketten-Richtlinie sieht Verschärfungen vor

Noch mal die EU-Kommission: In der vergangenen Woche hat die Behörde einen neuen Entwurf zu einer Richtlinie zu unternehmerischen Sorgfaltspflichten für Nachhaltigkeit vorgelegt. Zwei Rechtsexperten haben in diesem Blogbeitrag die wesentlichen Merkmale des Entwurfs im Vergleich zum – deutlich weniger strikten – deutschen Lieferkettengesetz herausgearbeitet.

Neue Diskussionen um Bitcoin

Neue Diskussionen um Bitcoin

In die Ukraine bringen sie Spenden ein. Und in Russland helfen Krypto-Technologien, das westlich kontrollierte Bankenwesen zu umgehen. So oder so: Seit Beginn der russischen Invasion verzeichnen Kryptobörsen die höchsten Transaktionsvolumina in russischem Rubel und der ukrainischen Hrywnja seit Monaten. Die SZ hat sich dem Thema gewidmet. In den kommenden neun bis zwölf Monaten sei nicht davon auszugehen, dass es der russischen Wirtschaft gelingt, auf Krypto umzusatteln, zitiert die Süddeutsche Experten.

Ein letzter Schluck

Keine I-Phones für Russland

Bisher funktionierte das Prinzip ESG so: Verbraucherinnen strafen Konzerne ab, die ihrer ökologischen und sozialen Verantwortung nicht gerecht werden, indem sie nicht in sie investieren und ihre Produkte verschmähen. Putins brutaler Angriff auf die Ukraine hat die Karten neu gemischt und eine bisher unübliche Dynamik heraufbeschworen: Unternehmen weigern sich, ihre Produkte in einem Land zu verkaufen und zu produzieren, das von einem nicht zurechnungsfähigen Kriegstreiber gesteuert wird. Der US-Konzern Apple bietet Produkte und Dienste nicht mehr in Russland an, die Autobauer BMW und Ford ziehen sich aus ihren russischen Produktionsstätten zurück und stoppen ihre Exporte. „Wir verurteilen die Aggressionen gegenüber der Ukraine“, hieß es dazu von BMW schlicht und klar. Auch Artikel von Nike können von Russland aus nicht mehr bestellt werden.

Die ukrainische Abgeordnete Lesia Vasylenko lobte das Verhalten der Unternehmen via Twitter:

Mancher lästert nun über mögliche Eigeninteressen der Konzerne und die scheinbare Banalität des Vorenthaltens solcher Konsumgüter angesichts der aktuellen Zeiten. Doch die Maßnahmen gehen über den Wert von I-Phones, Autos und Sportschuhen und das kosmopolitische Lebensgefühl, das sie transportieren, hinaus. Die Hoffnung beruht auch darauf, dass mehr Menschen in Russland trotz der Politik der stetigen Desinformation aufwachen, dass die Realität des Krieges in ihrem Nachbarland, mit dem viele eng verbunden sind, zu ihnen durchdringt. Wenn Unternehmen dazu beitragen, übernehmen sie soziale Verantwortung.

Autorinnen dieser Ausgabe: Anne Hünninghaus + Marilena Piesker

Autorinnen dieser Ausgabe: Anne Hünninghaus + Marilena Piesker

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