ESG report #24: ESG-Fachkräftemangel I Psychologische Effekte
Liebe Leserinnen und Leser,
in vielen Branchen fehlt seit Jahren qualifiziertes Personal – auch in der Finanzbranche. Nun kristallisiert sich heraus, in welchem Themenfeld es für Banken und Co. besonders schwierig ist, gutes Personal zu finden. Sie ahnen schon: Es sind die ESG-Profis. Das Thema ist recht jung, die Nachfrage nach Fachleuten explodiert, das Angebot bleibt vorerst knapp.
Wer sich auskennt, kann umso mehr mit seiner ESG-Expertise glänzen. Bloß wie werden Sie ein Nachhaltigkeitsfinanzprofi? Wir verraten, wo es die besten Weiterbildungen gibt und vor welchen Herausforderungen die deutsche Finanzwelt steht.
Bleiben Sie bis zum letzten Schluck: Dort erfahren Sie, warum Ihre Kunden womöglich der Ansicht sind, Sicherheit und Nachhaltigkeit schließen sich als Geldanlagekriterien aus.
Ob das stimmt? Am Ende wissen Sie mehr.
Ihre ESG-Redaktion
Wir freuen uns über Ihr Feedback an redaktion@esg-report.de – und natürlich über Ihre Weiterempfehlung.

Deutschland sucht die Super-ESGler
Kunden und Investorinnen verlangen immer mehr ESG-Konformität. Bloß: Auf Sustainability spezialisiertes Personal wächst nicht auf Bäumen und von einem Tag auf den anderen.
Der ESG-Fachkräftemangel droht die Finanzbranche mächtig auszubremsen, wie eine Studie aus Kanada kürzlich wieder mal zeigte. Dort bekommen zwei Drittel der Unternehmen im Finanzsektor ihre ESG-Stellen nicht besetzt. Zahlen dazu, wie eng der Arbeitskräftemarkt in Deutschland ist, kennen wir nicht. Aber viel rosiger dürfte es auch bei uns nicht aussehen, berichten zumindest Recruiting-Spezialisten aus der Branche. Ähnlich wie zu Zeiten der Finanzkrise 2008, als von heute auf morgen überall Compliance-Experten nachgefragt waren, braucht es nun ESG-Experten auf allen Senioritätslevel.
Das Problem dürfte nicht nur Banken betreffen, sondern die Wirtschaft insgesamt, auch Wirtschaftsprüfungen, Ratingagenturen oder Asset Manager. Grund für den Mangel an Spezialisten dürfte unter anderem sein, dass man lange annahm, ESG wäre nur eine weitere Blase, ein Trend, der so schnell verschwinden würde, wie er gekommen ist.
Nun suchen Banken und Asset Manager statt der klassischen BWL-, VWL- und Jura-Absolventen plötzlich nach Ingenieuren, zum Beispiel für Agrar- oder Maschinenbau oder nach Verfahrenstechnikern-Kandidaten, die Biodiversität verstehen. Allerdings gibt es weit weniger qualifizierte Kandidaten als offene Positionen, darum kommen die Banken nicht drumherum, selbst weiterzubilden.
Was können Sie als Berater tun?
Wer sich noch nicht auf das Thema ESG ausgerichtet hat, fällt ohnehin langsam, aber sicher in der Branche zurück. Wenn Sie es dagegen proaktiv angehen und sich durch Weiterbildung als Spezialist positionieren, dürften Sie Ihren Marktwert gerade in Zeiten des Mangels erhöhen. Kurse und Studiengänge bieten eine Reihe an Instituten an. Laut Kennern sollten Sie auf die renommiertesten setzen. Hier eine Auswahl:
- Zertifikatslehrgang „Certified Expert in Sustainable Finance“ bei der Frankfurt School of Finance and Management
- Masterstudiengang „Sustainable Business and Corporate Responsibility Management“ der Universität Mannheim
- Online-Fortbildungen der Universität Cambridge
- „Global Business and Sustainability“ bei der Rotterdam School of Management

20 Prozent mehr Umsatz durch ESG?
Fast ein Drittel (30 Prozent) der Verbraucherinnen und Verbraucher im deutschsprachigen Raum wären bereit, einen Aufschlag für nachhaltige Finanzprodukte zu zahlen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Erhebung der Strategie- und Marketingberatung Simon-Kucher & Partners. Im Durchschnitt wäre ihnen das grüne Gewissen bei Investitionen einen Aufpreis von 20 Prozent wert. In anderen Bereichen ist die Zahlungsbereitschaft sogar noch größer: Bei Konsumgütern wären laut Umfrage sogar 40 Prozent offen für ESG-Aufpreise. Wie weit solchen Selbstauskünften auch Taten folgen, wissen wir aber auch nicht - und bleiben skeptisch. Dazu lesen Sie unten mehr in unserem "Letzten Schluck".

Was uns diese Woche noch auffiel

1) Orpea-Affäre: Die Sache mit den ESG-Scores
Es mehrten sich zuletzt Vorwürfe gegen den französischen Pflegeheimbetreiber Orpea, ältere Bewohner der Einrichtungen seien Misshandlungen ausgesetzt. Doch gleich mehrere Agenturen hatten dem Konzern noch im vergangenen Jahr beste ESG-Ratings bescheinigt. Das stellt einmal mehr deren Aussagekraft infrage. Ecoreporter rät: Selbst prüfen, statt sich auf Dritte zu verlassen und gibt dazu ein paar Tipps an die Hand.

2) Das unterbelichtete S
Während die Klimakatastrophe dazu beiträgt, das "E" in ESG näher zu definieren, fehlt es für die Dimension des Sozialen weiterhin an übergreifenden Metriken, kritisiert der New Yorker Ethik- und Finanzprofessor Michael Posner in dieser lesenswerten Analyse. Ihn stört, "dass standardsetzende Organisationen darauf drängen, die aktuellen Systeme in eine Konsensversion zu konsolidieren, die auf fehlerhaften Kriterien basiert". Und: Große Vermögensverwalter versehen Anlageprodukte mit ESG-Label, deren soziale Auswirkungen fragwürdig sind. Posner spielt zum Beispiel auf Investitionen in Unternehmen wie Tesla an, die Rohstoffe aus kongolesischen Minen mit äußerst zweifelhaftem Ruf beziehen.

3) Landgericht stoppt ESG-Werbung von Commerz Real
Nun ist es offiziell: Die Commerz Real (wir hatten hier berichtet) darf nach einem Urteil des Landgerichts Stuttgart keinen werblichen Zusammenhang zwischen Investitionssumme und CO2-Fußabdruck mehr herstellen. Das Urteil war so auch erwartet worden – und lässt in manchem Fondshaus nun Marketingträume platzen.

Safety first
Vergangene Woche haben wir uns an dieser Stelle über Manager ausgelassen, die zum schönen Schein Nachhaltigkeit propagieren, selbst aber nicht danach handeln. Hier spielt auch die sogenannte soziale Erwünschtheit eine Rolle, ein psychologischer Effekt, der sich immer wieder in Studien zum Thema niederschlägt. „Ist es Ihnen wichtig, dass Ihre Urenkel eines Tages auch noch fröhlich über grüne Wiesen hüpfen können?“ Ein beschämendes „Nein“, wird darauf kaum zu erwarten sein. Interessanter sind daher Umfragen, die nicht nur wissen wollen, ob Anlegerinnen Wert auf ESG legen, sondern auch, ob sie maßgeblich danach entscheiden. Das hat das Deutsche Institut für Vermögensbildung und Alterssicherung (DIVA) aktuell getan. Ergebnis: Wenn sie priorisieren müssen, welches Kriterium ihnen bei der Anlageentscheidung am wichtigsten ist, wählen die Deutschen Sicherheit. 40 Prozent der 2.000 befragten Privatanleger sagten das. Danach folgt Rentabilität (27 Prozent). Nachhaltigkeit nannten nur 15 Prozent als Hauptkriterium.
Nun läge es nahe, darüber zu spotten, dass eine vermeintlich riskante ESG-Geldanlage das sicherheitsliebende Anleger-Gemüt stärker erschüttert als die Vorstellung sich häufender Naturkatastrophen. Aber auch das wäre zu einfach, denn hier greifen ebenfalls psychologische Effekte. Zum Beispiel: Der „unrealistische Optimismus“, demzufolge Menschen für ihr eigenes Leben optimistischer sind als für andere und – im Fall der Klimakatastrophe – davon ausgehen, diese werde sie persönlich schon nicht betreffen. Dazu bremst der „Zuschauereffekt“ das Aktivwerden: Andere, vor allem Politik und Unternehmen, werden es schon richten. Es kommt aber auch noch etwas drittes ins Spiel und das ist schlichtweg: Unwissenheit. Anlagemöglichkeiten, die ESG, Rendite und Sicherheit vereinen, sind vielen offenbar nämlich gar nicht bekannt. Und hier, liebe Leserinnen und Leser, braucht es keinen Psychologen – sondern kompetente Beraterinnen und Berater.
Autorinnen dieser Ausgabe:

Anne Hünninghaus + Mariam Misakian
Wir sind Redakteurinnen in der Wirtschafts- und Finanzredaktion wortwert. Wenn Sie Hinweise haben, Kommentare loswerden wollen, oder besondere Wünsche an unser Team haben, schreiben Sie uns gern an redaktion@esg-report.de.