ESG report #17: Markt vs. Staat | ESG-Datenbank | EU-Taxonomie

Liebe Leserinnen und Leser,

stellen Sie sich den Straßenverkehr ohne Regeln vor: keine Ampeln, keine Geschwindigkeitsbegrenzung, kein rechts vor links. Alle fahren, wo und wie sie es wollen. Kurzum: ein ziemliches Chaos mit wahrscheinlich vielen Verletzten.

Nun stirbt erstmal niemand, wenn es bei ESG-Investments keine klaren Regeln gibt. Doch Greenwashing hat Konsequenzen: Es lenkt Kapital in falsche Bahnen und schadet so der Umwelt, und damit auch Menschen.

Das sind nicht gerade rosige Aussichten. Um langfristig Vertrauen zu schaffen, braucht es also konkrete Regularien und Institutionen. Angekommen ist das bei politischen Entscheidungsträgern offenbar noch nicht. Doch was passiert, wenn die Politik nicht entsprechend handelt? Richtig, die Privatwirtschaft greift ein. Womit wir bei einer der ältesten Fragen im Kapitalismus angelangt sind: Wie viel Freiheit ist genug? Wir haben bei den Urhebern der neu gegründeten Datenplattform “ESG Book” nachgefragt. Außerdem in dieser Ausgabe: Die EU-Taxonomie hinterlässt in der Immobilienbranche Fragezeichen.

Eine gute Lektüre!

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Frage der Woche

Funktioniert freiwillige Selbstkontrolle?

Immer mehr Investoren begegnen den Behauptungen der Vermögensverwalter, ihre Assets seien nachhaltig, mit Skepsis. Das ist verständlich in Anbetracht der Nonchalance, mit der manche ihre herkömmlichen Anlagen als grün deklarieren. Wir brauchen Transparenz. Etwa in Form einer weltweiten Datenbank, die Angaben von Unternehmen zu deren nachhaltiger Ausrichtung enthält.

Neu ist die Idee nicht. Die EU diskutiert seit einigen Monaten über eine solche Datenbank. Diese soll Finanz- und Nachhaltigkeitsinformationen über europäische Unternehmen und Anlageprodukte enthalten. Kommen wird sie allerdings frühestens im Jahr 2024, bis dahin verstreicht weitere wertvolle Zeit. Auch der scheidende Leiter des Sustainable-Finance-Beirat der bisherigen Bundesregierung, Karsten Löffler, wünscht sich von der nächsten Regierung eine deutsche Sustainable-Finance-Plattform. In der vergangenen Legislatur blieb der Wunsch unerfüllt.

Mit der Investmentgesellschaft Arabesque hat nun die Privatwirtschaft das Zepter selbst in die Hand genommen und gemeinsam mit Unternehmen wie der Deutschen Bank oder der Allianz das so genannte ESG Book ins Leben gerufen. Für Sie als Berater ein hilfreiches Instrument: Die Datenbank soll ESG-Informationen freizugänglich und vergleichbar machen; ein sinnvolles Nachhaltigkeits-Reporting wäre möglich. Sofern, und das ist die Bedingung, alle Akteure der Finanzbranche daran teilnehmen und sich an die Spielregeln der Datenbank halten.

Im ESG Book sollen Unternehmen Angaben zu nachhaltigen Aspekten hochladen. Kennzahlen wie "Grüne Einnahmen" oder "Emissionen" sollen künftig einen besseren Einblick geben, was Konzerne konkret im Kampf gegen den Klimawandel tun und wie es um ihren CO2-Fußabdruck steht.

Doch leider kommt eine privatwirtschaftlich organisierte Datenbank hier an ihre Grenzen; sie wird anders als staatliche oder EU-weite Regeln niemals verbindlich sein. Die abschließende Frage, die wir uns stellen müssen, ist also: Wie viel Erfolg kann eine Datenbank haben kann, die nur auf freiwilliger Teilnahme beruht?

Wir haben bei Arabesque-Präsident Daniel Klier nachgefragt, wie die freiwillige Selbstkontrolle der Finanzindustrie mithilfe der Plattform funktionieren soll.

Drei Fragen an Daniel Klier von Arabesque

Daniel Klier (c) Arabesque

Herr Klier, warum braucht die Finanzwelt eine Nachhaltigkeitsdatenbank wie das ESG Book?

Gegenwärtig sind ESG-Daten in hohem Maße intransparent, unzugänglich, von menschlicher Voreingenommenheit geprägt und nicht vergleichbar. Eine ESG-Datenbank schafft eine transparente Lösung, die datengesteuert und für alle zugänglich ist. Wir glauben, dass das ESG Book den ESG-Datenmarkt auf die gleiche Weise verändern wird, wie Spotify die Musikindustrie verändert hat.

Das ist ein ziemlich hoher Anspruch. Wie soll das gelingen?

Das ESG Book macht Daten vergleichbar, in Echtzeit zugänglich und kostenlos verfügbar. Nur wenn wir ESG-Daten als öffentliches Gut zur Verfügung stellen, haben wir die Möglichkeit, Nachhaltigkeit auf den Finanzmärkten und im weiteren Sinne zu etablieren.

Wie erklären Sie sich, dass es dafür bislang keine staatliche Lösung gibt?

Private Akteure können schneller handeln, die Verbindungen zwischen verschiedenen Akteuren herstellen, rahmenunabhängige Unterstützung bieten und ohne Grenzen agieren. Ich glaube, die Umgestaltung der Finanzmärkte und die vollständige Integration von ESG in Investitionsentscheidungen erfordert das Zusammenspiel von öffentlichen und privaten Akteuren.

Fest steht: Das ESG Book ist seit dem 1. Dezember online. Unternehmen können dort ihre ESG-Daten in Echtzeit offenlegen. Einerseits eine gelungene Initiative, vorausgesetzt, es kommen genügend Daten zusammen. Das ist aktuell noch nicht absehbar. Andererseits wird es bei einer Organisation durch Unternehmen nicht bei einer einzigen Datenbank bleiben: Konkurrierende Plattformen, die Kennzahlen wiederum auf unterschiedliche Weise abfragen, könnten unter Vermittlern und Anlegern für Verwirrung sorgen.

Zahl der Woche

70 Prozent

... aller Anleger wünschen sich, dass ihre Finanzberater ihnen mehr neue ESG-Fonds anbieten.

Verblüffend, oder? Es vergeht kaum eine Woche in der Fondsgesellschaften nicht ein Produkt mit ESG-Label auf den Markt bringen. Und doch scheint die unglaubliche Vielfalt an verschiedenen Ansätzen, Strategien und Herangehensweisen beim Kunden nicht anzukommen. Das jedenfalls legt eine aktuelle Umfrage von Nordea Asset Management unter 1.200 Einzelinvestoren aus Deutschland, Spanien, Italien und der Schweiz nahe. Deutsche Anleger berichten darin, dass sie niedrige Nachhaltigkeitsstandards zwar als finanzielles Risiko anerkennen, ihre Finanzberater ihnen aber keine passenden Produkte vorschlagen. Das trifft laut Studie auf 70 Prozent der Befragten zu. 65 Prozent haben in den vergangenen zwölf Monaten keinen einzigen Vorschlag für ein ESG-konformes Produkt erhalten.

Das dürfte sich bald ändern: In weniger als 250 Tagen treten die neuen MiFID- und Nachhaltigkeitsvorschriften der Europäischen Union in Kraft, wonach Finanzberater die ESG-Präferenzen ihrer Kundschaft proaktiv abzufragen haben. Bis dahin aber gilt: Das Verkaufspotential bei nachhaltigen Finanzprodukten ist nach wie vor gewaltig.

Sie brauchen es nur zu schöpfen.

Auf einen Blick

Was uns diese Woche noch auffiel

Fondsbranche bleibt konventionell

Fondsbranche bleibt konventionell

Asset-Manager interessieren sich nur noch für Nachhaltigkeit? Von wegen: Laut einer Analyse des Datenspezialisten Lipper legen Anbieter nach wie vor am liebsten konventionelle Produkte auf. Von den 1.019 der in den ersten neun Monaten des Jahres neu lancierten Fonds verfolgen 467 keinen expliziten Nachhaltigkeitsansatz. 421 Produkte lassen sich Artikel 8 der EU-Taxonomie zuordnen, während 131 Fonds unter Artikel 9 fallen. Aber: Die Zahlen beziehen sich allein auf die sogenannten Hauptanteilsklassen sowie auf Fonds, die sich explizit nach Artikel 6, 8 oder 9 klassifizieren lassen. 786 Neuauflagen bleiben damit außen vor.

Grüner Etikettenschwindel

Grüner Etikettenschwindel

Viele als nachhaltig beworbene Fonds legen ihr Geld kaum anders an als konventionelle Fonds. Zu diesem Ergebnis kommt eine Analyse der gemeinnützigen Organisation Finanzwende Recherche. Demnach befinden sich in vielen als ESG-gelabelten Produkten Aktien von Ölunternehmen und Konzernen mit fragwürdigen Sozialstandards. So flossen mehr als 70 Prozent der vermeintlich nachhaltigen Investitionen in fossile Energieträger, darunter knapp 100 Millionen Euro allen in Braun- und Steinkohle. Das Fazit der Studienautoren: Verpackung hui, Inhalt viel zu oft pfui.

Euro ist ESG-Währung

Euro ist ESG-Währung

Der Euro ist für ESG-Investoren das Mittel der Wahl. 50 Prozent aller Investitionen in Sustainable Finance sind in Euro notiert – nur 27 Prozent in US-Dollar. Das sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer Rede zum 75. Jubiläum der European League for Economic Cooperation. Bis zum Jahr 2025 dürfte sich das Volumen nachhaltiger Investitionen Studien zufolge verdreifachen. Die EU werde weiterhin alles tun, um die Position des Euros zu stärken, bekräftigte von der Leyen.

EIn letzter Schluck

Viel gewollt, wenig geschafft

Stellen Sie sich vor, zum Jahreswechsel tritt ein bahnbrechendes Regelwerk in Kraft – und vier Wochen vorher wissen die Betroffenen immer noch nicht, wie sie es umsetzen sollen. So geht es aktuell der Immobilienbranche mit der EU-Taxonomie. Laut einer Umfrage von EY Real Estate wissen 94 Prozent der befragten Unternehmen aus der Immobilienwirtschaft gar nicht, welche Kriterien ihre Objekte erfüllen müssen, um als Taxonomie-konform zu gelten. Und das, obwohl ein Großteil der Verordnung bereits Anfang kommenden Jahres in Kraft tritt.

Nun bezieht sich die Branchenstudie von EY Real Estate lediglich auf 35 Unternehmen. Dennoch dürften die Konzerne mit ihren Fragezeichen nicht allein sein. Die Verordnung samt Anhängen umfasst zwar unglaubliche 500 Seiten. Diese beziehen sich aber ausschließlich auf Umweltziele. Die anderen beiden Dimensionen von Nachhaltigkeit – das S für Sozial und das G für Governance – finden in der Taxonomie nicht statt. Diese Vorgaben will die EU später noch nachreichen. Für den Moment gilt: Es fehlt der Plan fürs große Ganze, während schon jetzt viele nicht mehr durchblicken.

Für die Betroffenen ist das ärgerlich und frustrierend, gerade wenn sie Investmententscheidungen treffen, die sich nicht so schnell revidieren lassen. Beispiel Immobilien: Ein Gebäude, das die Taxonomie-Kriterien doch nicht mehr wie gedacht erfüllt, dürfte spürbar an Wert verlieren. Womöglich bleibt das Unternehmen auf den Verlusten sitzen, obwohl es nach bestem Wissen nachhaltig investieren wollte. Langfristig wird die Taxonomie ihren Zweck damit zwar erfüllen. Der Weg könnte aber leichter sein.

Autorinnen dieser Ausgabe:

Alexandra Jegers + Marilena Piesker

Alexandra Jegers + Marilena Piesker

Wir sind Redakteurinnen in der Wirtschafts- und Finanzredaktion wortwert. Wenn Sie Hinweise haben, Kommentare loswerden wollen, oder besondere Wünsche an unser Team haben, schreiben Sie uns gern an redaktion@esg-report.de.

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